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Winkmann: „Thomas Müller hätte auch Schiedsrichter werden können“

Guido Winkmann musste seine Karriere als Bundesliga-Schiedsrichter mit dem Ablauf der Saison 2020/21 beenden. Im Interview erklärt der 47-Jährige, warum der Kölner Keller wichtig für die Referees ist, welche Fehlentscheidung ihm am meisten wehgetan hat und wieso er Thomas Müller eine Karriere als Schiedsrichter zutrauen würde.

Am 22. Mai war Abpfiff für Guido Winkmann in den Arenen der Fußball-Bundesliga. Der Schiedsrichter leitete vor 2000 Fans im Stadion An der Alten Försterei die Partie Union Berlin gegen RB Leipzig – es war Winkmanns 161. und letzter Auftritt im Oberhaus. Er wird jetzt als Video-Assistent in der Bundesliga im Einsatz sein. Im Interview spricht der 47-Jährige über seine Laufbahn, die Arbeit im Keller in Köln, besondere Spielertypen und Fehlentscheidungen.

Herr Winkmann, können Sie sich an Ihren ersten Einsatz als Schiedsrichter erinnern?

„Das war 1989, ich war erst 16 Jahre alt, ein Spiel der A-Jugend der DJK Kleve gegen die B-Jugend des VfB Kleve. Christoph Thyssen, jetzt Vorsitzender des 1. FC Kleve, hat mitgespielt. Er ist ein guter Freund, der auch bei meinem Abschied in Berlin im Stadion war.“

Haben Sie selbst Fußball gespielt?

„Bis zur A-Jugend beim SV Nütterden. Ich habe mich aber früh entschieden, Schiedsrichter zu werden – das wollte ich bereits mit elf Jahren.“

Warum?

„Ich hatte das Gefühl, dass dies etwas sein könnte, das ich gut kann. Und ich bin vielleicht auch ein Typ mit Gerechtigkeitssinn. Das ist nicht immer förderlich, weil man sich hier und da aufreibt. Aber man kann nicht immer die Welt retten.“

Gibt es Personen, die den jungen Schiedsrichter Guido Winkmann besonders gefördert haben?

„Das war Ralph van Hoof, der damalige Schiedsrichter-Lehrwart im Fußball-Kreis Kleve/Geldern. Er hat in der Oberliga gepfiffen, die seinerzeit die dritthöchste Klasse war. Er hat mich früh als Assistent mitgenommen. Eines meiner ersten Spiele an der Linie war die Partie TuS Langerwehe gegen Alemannia Aachen vor 6500 Zuschauern auf einem Dorfsportplatz – auch das sind Erlebnisse, die bleiben.“

Und jetzt war bei Union Berlin Abpfiff – 13 Jahre nach dem Bundesliga-Debüt bei der Partie Energie Cottbus gegen TSG Hoffenheim.

„Ich hatte ein tolles letztes Spiel in Berlin. Es waren zwar nur 2000 Zuschauer da, doch die haben unheimlichen Lärm gemacht. Es war das emotionale Abschiedsspiel, das ich mir gewünscht habe.“

Wäre es ohne Zuschauer ein bitterer Abschied gewesen?

„Den Profifußball nach 20 Jahren ohne Fans, ohne Emotionen auf den Rängen verlassen zu müssen, das wäre traurig gewesen.“

Sie müssen aufhören, weil sie 47 Jahre alt sind. Was halten sie von dieser Altersgrenze?

„Man kann sie mit gemischten Gefühlen betrachten. Einerseits: Je älter ein Schiedsrichter ist, desto mehr Erfahrung hat er in Sachen Spielführung. Andererseits kann ein Verband durch die Altersgrenze planen, welcher Schiedsrichter wann aufhört und jungen Leuten so eine Perspektive aufzeigen. Ich hatte darum gebeten, ein halbes Jahr länger pfeifen zu dürfen, um mich vor Fans verabschieden zu können. Und da war es eine glückliche Fügung, dass ich zum Abschied bei Union Berlin pfeifen durfte.“

Und jetzt geht es in den berüchtigten Videokeller in Köln.

„Das ist das Video-Assist-Center, wie es bei uns heißt – Keller klingt immer so negativ. Ich habe auch dort schon mehr als 60 Spiele in der Bundesliga gemacht.“

Sind Sie ein Befürworter des Video-Assistenten?

„Ja, weil er viel Druck vom Schiedsrichter nimmt. Nehmen wir das Hoffenheimer Phantom-Tor von Stefan Kießling oder andere Geschichten – die wären durch den Videoassistenten revidiert worden. Er ist eine Unterstützung für den Schiedsrichter, ein Rettungsanker. Video ist nicht nur da, um Fehlentscheidungen zurückzunehmen, sondern auch, um richtige Entscheidungen zu untermauern.“

Schwindet nicht die Autorität des Schiedsrichters, wenn die Spieler wissen, dass im Keller die letzte Entscheidung getroffen wird.

„Ich glaube nicht. Wenn ich mir eine strittige Szene im Stadion noch einmal auf dem Bildschirm angeguckt und meine Entscheidung daraufhin korrigiert habe, habe ich oft gemerkt, dass dies den Spielern Respekt abverlangt.“

Haben Sie nach Spielen geschaut, wie Ihre Leistung bewertet wurde?

„Anfangs schon, seit Jahren nicht mehr. Da habe ich nur noch gelesen, was mir Kollegen, Freunde oder Bekannte zugeschickt haben. Und die melden sich meistens nur, wenn es negative Beiträge gab. Ein Schiedsrichter ist ein Dienstleister. Er fällt meistens nur auf, wenn einem Team die Dienstleistung nicht so gefällt. Wenn ich bei einem Foul einen Vorteil gebe und dadurch ein Tor entsteht, ist das selbstverständlich – erwähnt wird nur, wenn man Fehler macht. Deshalb war meine Devise: Nichts sehen, nichts hören.“

Was hat sich seit ihrem ersten Bundesliga-Einsatz geändert. Ist das Geschäft fieser geworden?

„Der Einfluss der sozialen Medien schürt viel Hass. Was früher der Boulevard gemacht hat, ist auf die sozialen Medien übertragen worden. In den Stadien hat sich nicht viel geändert, im Gegenteil. Die Stimmung ist fast überall exorbitant gut. Und natürlich gibt’s weiter gellende Pfeifkonzerte bei einer Entscheidung des Schiedsrichters gegen das Heimteam.“

Pfeifkonzerte gab es wegen Corona lange nicht. Sind Geisterspiele leichter zu leiten?

„Corona hat uns vor allem gezeigt, dass wir viel demütiger sein müssen. Wir konnten froh sein, dass Profifußball erlaubt war. Und ja, die Aufgabe war leichter, weil es ohne Fans viel weniger Emotionen gab, die Spieler nicht so von außen angestachelt wurden. Aber es hat auch viel gefehlt.“

Gibt es Stadien, in denen Sie besonders gerne gepfiffen haben?

„Wenn wir zum Beispiel beim FC St. Pauli zu Hells Bells von AC/DC auflaufen, kribbelt es schon, wird Adrenalin freigesetzt. Es gibt in vielen Stadion Besonderheiten, auf die man sich immer gefreut hat.“

Macht es einen Unterschied, ob Robert Lewandowski sich bei Ihnen beschwert hat oder ein Zweitliga-Akteur vom SV Sandhausen?

„Absolut nicht. Ich habe nie Respekt vor großen Namen gehabt, habe Franck Ribery, Arjen Robben und Lukas Podolski vom Platz gestellt. Ich glaube schon, dass die Vereine wussten, wenn Winkmann kommt, dann kommt ein Schiedsrichter, der seine Linie konsequent durchzieht.“

Also hat jeder Schiedsrichter seinen eigenen Stil?

„Fast jeder. Und was wir in der Bundesliga machen, ist auch wichtig für den Amateursport. Wenn wir Fouls durchgehen lassen, kriegen die Schiedsrichter in der Kreisliga sofort gesagt, dass werde in der Bundesliga anders gepfiffen. Wir haben eine Vorbildfunktion.“

Und wer war Ihr Vorbild als Schiedsrichter?

„Ich hatte kein Vorbild, habe mir aber von ganz vielen Leuten ganz viel abgeguckt.“

Was war Ihr größtes Spiel?

„Das ist schwer zu sagen. Ich war ja auch in der Champions League und Europa League als vierter Offizieller und Torrichter dabei. Ich habe so viel erleben dürfen. Mein Reisepass, der vor zwei Jahren abgelaufen ist, war voll mit Visa.“

Ihre größte Fehlentscheidung?

Ich würde die Frage anders formulieren, weil ich hier und da daneben gelegen habe. Wenn es um die Fehlentscheidung geht, die mir am meisten wehgetan hat, dann war es die, dass ich Lukas Podolski in einem Spiel 1. FC Köln gegen Hertha BSC wegen einer angeblichen Tätlichkeit, die mein Assistent mir gemeldet hatte, die Rote Karte gezeigt habe. Doch Podolski hatte einen Berliner nur ein bisschen geschubst, das reichte nicht einmal für eine Gelbe Karte. Da wäre es gut gewesen, wenn es den Videoassistenten gegeben hätte.“

Haben Sie mit Podolski darüber gesprochen?

„Er hat direkt nach dem Spiel zu mir gesagt: Das war nicht rot, das wirst du gleich sehen. Doch Köln hat das Spiel trotzdem gewonnen. Schiedsrichter sind, wenn sie falsch entschieden haben, auch vom Ergebnis abhängig. Wenn man fälschlicherweise eine Ecke gegeben hat, durch die das entscheidende Tor fällt, dann brennt der Baum.“

Haben Sie sich einmal bedroht gefühlt?

„Eigentlich nie, aber es gab schon hier und da in Stadien eine aggressive Stimmung. Und wenn dann Ordner die Regenschirme aufspannen, um Wurfgeschosse abzuwehren, macht man sich schon Sorgen, ob man getroffen wird.“

Mussten Sie ein Spiel einmal beenden, weil Sie sich verletzt hatten?

„Ich stand zwei oder drei Mal kurz davor. Ich habe mir mal den Meniskus angerissen, habe das aber wegen des Adrenalins nicht gemerkt. Dann habe ich einmal eine starke Zerrung und einmal einen Muskelfaserriss in der Wade erlitten. Und einmal bin ich von einem Spieler umgelaufen worden, das hat richtig gerummst. Ich konnte mich danach 14 Tage nicht richtig bewegen.“

Gibt es in der Bundesliga besonders faire oder unfaire Spieler?

„Die Spieler sehen zunächst ihren eigenen Vorteil, die meisten wollen um jeden Preis gewinnen. Ich habe von der Kommunikation versucht, immer mit allen Spielern klarzukommen, obwohl es Akteure gibt, die einem mit ihrer Motzerei ein ganzes Spiel kaputtmachen können. Mit wem man fachlich sehr gut diskutieren kann, ist Thomas Müller vom FC Bayern. Mit ihm kann man Klartext reden. Ich habe ihm einige Male gesagt, wenn er nicht Fußballer geworden wäre, hätte er Schiedsrichter werden können.“

Zur Arbeit als Video-Assistent: Muss wirklich jedes Tor überprüft werden?

„Das ist so angewiesen worden. Wir müssen drei Sachen überprüfen: Lag ein Handspiel vor, gab es eine Abseitsstellung, ist dem Treffer ein Foul vorausgegangen.“

Mit wie vielen Leuten wird ein Spiel geschaut?

„Zuletzt waren wir zu dritt. Der Video-Assistent, der ein Schiedsrichter ist, sowie sein Assistent, ein geschulter Linienrichter. Und es gibt es eine Person, die uns die besten Bilder liefern muss, um eine Szene beurteilen zu können. Dabei existiert ein extremer Zeitdruck. Es gilt zwar Sicherheit vor Schnelligkeit. Aber wir müssen natürlich dafür sorgen, dass ein Spiel nicht zu lange unterbrochen werden muss.

Und dann entscheidet oft ein Zentimeter, erst sichtbar, weil eine virtuelle Linie gezogen wird, über Abseits oder nicht. Macht das Sinn?

„Diese Diskussion ist überflüssig. Wenn die Technik etwas hergibt, um Regeln umzusetzen, muss man sie nutzen. Bei manchen von der FIFA vorgegebenen Regelauslegungen frage ich mich auch, ob sie Sinn machen – zum Beispiel beim Handspiel, das immer diskussionsbehaftet bleiben wird.“

Schauen Sie bei der Europameisterschaft mehr auf die Spiele oder beobachten Sie die Schiedsrichter?

„Ich glaube, ich schaue immer noch zu 60 Prozent darauf, was der Schiedsrichter macht. Das bekommt man einfach nicht raus.“

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Fußballs?

„Man muss sehen, dass der Fußball nicht zu einem medialen Produkt verkommt, wie es in England schon der Fall ist, sondern ein tolles Event bleibt. Es ist wichtig, dass der Besuch eines Bundesliga-Spiels für eine Familie bezahlbar bleibt und sie nicht 300 Euro los ist, wenn sie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern ins Stadion geht und dort eine Wurst isst. Der Fußball lebt von der Nähe der Fans. Das muss so bleiben.“

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