Ohne geht es nicht: Jedes Fußballspiel braucht einen Spielleiter oder eine Spielleiterin. Der Deutsche Fußball-Bund beklagt allerdings eine deutlich sinkende Zahl aktiver Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter. Gemeinsam mit Landesverbänden und Vereinen sucht er Lösungen – doch wo bleibt der Nachwuchs? Eine Spurensuche.
Frankfurt/Main. Am letzten Oktoberwochenende im Jahr 2019 blieben Berlins Fußballplätze leer. Das lag nicht etwa an fehlenden Mannschaften oder einem Unwetter – sondern an einem Streik der Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, als Reaktion auf vorangegangene Gewaltvorfälle. So hatte der Amateurfußball in der Hauptstadt eine Zwangspause.
Das ist nur ein Extrembeispiel. Doch das grundlegende Problem verschärft sich von Jahr zu Jahr. Die Statistik des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) spricht eine eindeutige Sprache: Die Zahl der aktiven Spielleiterinnen und Spielleiter ist seit mehr als einem Jahrzehnt rückläufig. Einen kleinen Zugewinn gab es zuletzt 2010, als im DFB rund 78.500 Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter registriert waren. Seither geht es steil bergab. Vergangene Saison waren nur 50.241 Referees im Einsatz. Selbst um den Corona-Effekt der beiden Spielzeiten 2019/2020 und 2020/2021 bereinigt, als nur ein Bruchteil an Amateurspielen stattfand und demnach deutlich weniger Referees im Einsatz waren, bleibt ein deutliches Minus zur letzten Vor-Pandemie-Saison.
Minus seit zwölf Jahren: DFB verzeichnet deutlichen Negativtrend
Besonders auffällig war der Negativtrend im Vergleich von 2015 zu 2016. Nach Rückgängen zwischen 0,5 und 3 Prozent in den Jahren zuvor hatte der DFB plötzlich rund 11.000 Unparteiische weniger erfasst. Die Erhebung der Statistik wurde 2015 angepasst und um „Karteileichen“ bereinigt, wie der DFB auf Nachfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND) bestätigt. Folglich erfasste der Verband nur noch Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, die mindestens eine Partie geleitet hatten. Damit reduzierte sich die Anzahl der Unparteiischen von rund 71.500 auf 60.400 – der Rückgang ist mit 10.000 Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern weniger noch immer deutlich.
Um zu erklären, wie es dazu kommen konnte, wird stets die Gewalt auf den Sportplätzen genannt, wie im Falle des Streiks in Berlin vor rund drei Jahren. „Das Fass war kurz vor dem Überlaufen“, sagt Ralf Kisting dem RND. Er ist Schiedsrichtersprecher im Berliner Fußballverband und war federführend an der damaligen Aktion beteiligt. Den erhofften Effekt konnten Kisting und Co. letztlich nicht direkt sehen, weil wenige Monate später die Corona-Pandemie einsetzte. Einen regulären Spielbetrieb gab es über rund anderthalb Jahre kaum. Seit dem Wiederbeginn im Sommer 2021 werden weiterhin regelmäßig Vorfälle gemeldet, sagt Kisting, „jedoch nicht in dem Maße wie 2019. Die Corona-Pause hat insofern wie ein Puffer gewirkt und die Lage insgesamt etwas beruhigt. Die grundsätzliche Kehrtwende gibt es aber noch nicht.“
In Berlin hat es vor rund anderthalb Jahren eine Neuerung gegeben. Kisting: „Wir haben eine Sportpsychologin durch die Förderung eines Sponsors eingestellt.“ Seit Anfang 2021 ist Theresa Hoffmann als Ansprechpartnerin nach Vorfällen zur Stelle und arbeitet zudem an Konzepten zur Prävention. Zu drei bis vier Fällen von Gewalt pro Wochenende komme es, „aber die Dunkelziffer ist sicher höher“, sagt Hoffmann.
Die Diplom-Psychologin berichtet zudem von „200 bis 250 Fällen, in denen es zu Beleidigungen kommt. Und: Es wird längst nicht mehr jeder dieser kleineren Tatbestände per Spielbericht gemeldet“, stellt sie fest: „Leider ist die Verrohung Normalität geworden.“
Mit Nationalspieler Leon Goretzka gibt es einen prominenten Fürsprecher, wenn es darum geht, dass sich das Verhalten gegenüber den Referees ändern muss. Jüngst schlug er im Interview dem Magazin „11 Freunde“ vor, selbst ein Amateurspiel zu leiten: „Ihr stellt die Vereine, und ich pfeife“, so lautete das Angebot des Profis des FC Bayern München. So etwas könne „ein Mosaikstein“ sein, sagt Sven Laumer. Er leitet den Schiedsrichterausschuss des Bayerischen Fußball-Verbands. Aktionen wie die von Goretzka allein aber „können nicht dafür sorgen, mehr junge Menschen an die Pfeife zu bekommen“. Doch sie könnten als Anstoß für einen besseren Umgang mit Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern dienen.
„Jeder einzelne der Gewaltvorfälle ist einer zu viel. Jeder ist natürlich zu verurteilen und entsprechend zu bestrafen – ohne Wenn und Aber“, betont Laumer, gibt jedoch zu bedenken: „Sie sind nur die Spitze des Eisbergs, die Zahlen stagnieren, sie sind glücklicherweise die Ausnahme. Die stehen medial dann aber immer im Vordergrund und finden heutzutage eine ganz andere Resonanz.“
Der für die Amateure zuständige DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann sieht an dieser Stelle dringend Nachholbedarf. „Wichtig ist, die positiven Seiten der Schiedsrichtertätigkeit hervorzuheben und öffentlich nicht ständig auszublenden“, sagt Zimmermann dem RND. In einer anonymen Umfrage des SWR im Frühjahr 2022 sagte ein Referee aus dem Amateurfußball: „Das Amt ist der Inbegriff von unsexy.“
In Bayern versucht der Landesverband seit rund vier Jahren mit der Kampagne „Wir regeln das“ einen Anreiz zu schaffen, das Image aufzubessern. Der dortige Schirichef Laumer sagt, es werde „auf allen Kanälen Werbung für das Schiedsrichterdasein gemacht. Wir müssen die jungen Menschen dort erreichen, wo sie tagtäglich unterwegs sind. Das sind die Social-Media-Kanäle.“ Der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter Jochen Drees schlägt ebenso in diese Kerbe. Drees ist derzeit Projektleiter für den Videobeweis beim DFB. Er ist überzeugt, dass die junge Generation gezielt angesprochen werden muss. „Einige Bundesliga-Schiedsrichter gehen hier schon voran und berichten zum Beispiel in den sozialen Medien über ihre Tätigkeit als Schiedsrichter und die positiven Effekte“, betont Drees gegenüber dem RND und sagt: „Die Eliteschiedsrichter sind Teil des Gesamtsystems und haben sicher eine Vorbildfunktion.“
Einigkeit herrscht, wenn es darum geht, die Vorteile für das Schiedsrichterwesen zu nennen. Der Nebenverdienst im Bereich von 20 Euro für ein Kreisligaspiel und bis zu 60 Euro für eine Oberligapartie plus eine Fahrtgeldpauschale ist ein nettes Zubrot, gerade für Jugendliche – doch für die wenigsten das ausschlaggebende Argument. „Jeder, der pfeift, pfeift auch gern“, ist der Berliner Kisting überzeugt. „Themen wie Führung, Leitung, Organisation, klare Hierarchien, Beobachtung und Feedback – das sind wahnsinnig viele Möglichkeiten für die persönliche Entwicklung“, sagt Psychologin Hoffmann: „Die Schiedsrichtergemeinschaft bringt viele schöne Erlebnisse mit sich.“ Der deutsche Fifa-Schiedsrichter Daniel Schlager betont, „dass einige Freundschaften erst durch meine Tätigkeit als Schiedsrichter entstanden sind“.
An der DFB-Spitze weiß man, dass Lösungen hermüssen. Die sinkende Zahl an Unparteiischen könnte auch den Profifußball vor Probleme stellen. Genau wie bei Spielern gilt: je weniger Nachwuchs, desto kleiner der Pool, aus dem die künftige Elite erwachsen kann. Verbandsvize Zimmermann sagt: „Es gilt, neu und vorwärtsgerichtet zu denken – hier sind vor allem die Verbände und Vereine in der Verantwortung.“
Es gibt eine Quotenregelung, die sich von Landesverband zu Landesverband leicht unterscheidet. Sie besagt, dass pro Jugend-, Frauen- und Herrenmannschaft im Spielbetrieb eine gewisse Zahl an Unparteiischen im Verein aktiv sein muss. Wer das Soll nicht erfüllt, muss Geldstrafen zahlen. Mit jedem Jahr, in der die Quote nicht stimmt, steigen sie. „Von 213 Berliner Vereinen, die Schiedsrichter stellen müssten, standen zum Jahresende 55 ohne einen einzigen da“, sagt Schiedsrichtersprecher Kisting und moniert: „Einige Vereine haben die Strafgelder in ihrem Haushalt eingeplant. Die Kosten sind nicht hoch genug.“
Er fordert drakonische Strafen. Vereine, die regelmäßig keine oder zu wenige Referees stellen, sollten mit Spielansetzungen ohne Schiedsrichter konfrontiert werden. Oder mehr noch, fordert Kisting: „Es muss um Punktabzüge und Zwangsabstiege gehen.“
Es gibt eine Quotenregelung, die sich von Landesverband zu Landesverband leicht unterscheidet. Sie besagt, dass pro Jugend-, Frauen- und Herrenmannschaft im Spielbetrieb eine gewisse Zahl an Unparteiischen im Verein aktiv sein muss. Wer das Soll nicht erfüllt, muss Geldstrafen zahlen. Mit jedem Jahr, in der die Quote nicht stimmt, steigen sie. „Von 213 Berliner Vereinen, die Schiedsrichter stellen müssten, standen zum Jahresende 55 ohne einen einzigen da“, sagt Schiedsrichtersprecher Kisting und moniert: „Einige Vereine haben die Strafgelder in ihrem Haushalt eingeplant. Die Kosten sind nicht hoch genug.“
Er fordert drakonische Strafen. Vereine, die regelmäßig keine oder zu wenige Referees stellen, sollten mit Spielansetzungen ohne Schiedsrichter konfrontiert werden. Oder mehr noch, fordert Kisting: „Es muss um Punktabzüge und Zwangsabstiege gehen.“
Das scheint nicht jedem so zu gehen. Bei Neulingen ist die Absprungrate hoch. So übersteigt die Zahl der Unparteiischen, die aufhören, immer deutlich die Zahl derjenigen, die gerade angefangen haben. In der vergangenen Saison sprangen 10.400 aus unterschiedlichen Gründen ab, nur 6300 kamen neu dazu.
Wieso ist es für so viele schnell wieder vorbei? Wenn bei Jugendspielen, bei denen Neulinge oft als Schiedsrichter eingesetzt werden, die Eltern an der Seitenlinie über die Stränge schlagen, ist das kontraproduktiv. Dabei ist der Jugendbereich eine gute Einstiegsmöglichkeit – sie fällt zunehmend weg, weil in jüngeren Altersgruppen wegen des Schiedsrichtermangels keine Referees mehr angesetzt werden. Bei den Partien im Erwachsenenbereich geht es direkt noch mehr zur Sache. DFB-Vizepräsident Zimmermann fordert die Vereine dazu auf, „dafür zu sorgen, dass bei Spielen ihrer Mannschaften immer ein vernünftiger und respektvoller Umgang mit den Unparteiischen gepflegt wird“.
Die Ansätze, um dem Negativtrend zu begegnen, sind vielfältig: Der Umgang muss sich ändern, das Schiedsrichterimage aufpoliert werden. Höhere Strafen für untätige Vereine könnten dazu führen, dass sie sich mehr um die Suche nach Nachwuchs an der Pfeife bemühen. Es gebe aber schlicht „kein Patentrezept“, um dem Schiedsrichterschwund im deutschen Fußball zu begegnen, sagt Berlins Schirichef Kisting. Eine Kehrtwende muss her. Denn ohne diejenigen, die das Spiel mit ihrer Pfeife leiten, wird es zunehmend still auf Deutschlands Fußballplätzen.
(Von: Roman Gerth; Redaktionsnetzwerk Deutschland)
Warum werden so viele Bundesligatrainer auf die Tribüne geschickt? Warum darf man in Medien ungestraft Schiedsrichter beleidigen und ihnen sogar den Tod wünschen? Warum dürfen Spieler sich öffentlich über Schiedsrichterleistungen unqualifiziert äußern? Warum dürfen sich Eltern beleidigend über Schiedsrichter reden?
Ich hatte mal einem heranwachsenden Schiedsichter eine Karriere zugetraut. Als er sich abmelden begründete er dies damit, dass er es nicht nötig habe, sich von Trainern und Eltern beleidigen zu lassen. Er könne seine Freizeit sinnvoller verbringen.
Noch Fragen?
Klasse Artikel, sehr gut zusammen gefasst. Offenbar hat niemand ein Patentrezept. Ich auch nicht. Ich kritisiere zwar in vielen Punkten, denn steter Tropfen höhlt den Stein. Aber das Patent fehlt mir auch.