Nach dem Ende der Weltmeisterschaft 2022 in Katar ist es einmal mehr Zeit, Bilanz zu ziehen. FIFA-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina kann nach einer wunderbaren Finalspielleitung des Polen Szymon Marciniak sicher zufrieden sein, wird aber auch die ein oder andere schwierige Spielleitung in der Endphase des Turniers aufarbeiten müssen.
Scheinbar zufrieden auf das Turnier zurückschauen wird der deutsche WM-Debütant Daniel Siebert. Sein selbst gestecktes Ziel von zwei Spielen erreichte er, jedoch wird er weiter an seinen Auftritten in hoch emotionalen Spielen arbeiten müssen, um nach Spielen, wie Ghana gegen Uruguay, weitere Begegnungen in K.O.-Phasen der nächsten Turniere zu erhalten.
In Erinnerung bleiben wird natürlich der Finalauftritt von Szymon Marciniak. Seine souveräne Spielführung, sowie die starken Strafraumentscheidungen, waren schon beeindruckend.
Daneben wird Stephanie Frappart in die Geschichtsbücher eingehen. Beim Spiel zwischen Costa Rica und Deutschland war sie die erste Frau, die ein WM-Spiel leitete. Zu nennen ist auch der Argentinier Facundo Tello. Nachdem er vor der WM noch mit einem Kartenrekord von zehn Platzverweisen in einem Spiel für Aufsehen gesorgt hatte, lieferte er gute und souveräne Leistungen. Die öffentlichkeitswirksame Kritik der Portugiesen nach ihrem Ausscheiden war dabei absolut ungerechtfertigt.
Ein Mann für die Zukunft ist Ivan Barton. Der erst 31-jährige aus El Salvador war der jüngste Hauptschiedsrichter des Turniers und gefiel mit sehr guter Persönlichkeit. Er erhielt für seine guten Leistungen bereits ein Achtelfinale und wird bei kommenden Weltmeisterschaften sicher ein Kandidat für mehr sein.
Eine interessante Turnierreise erlebte Ismail Elfath. Der US-Amerikaner mit marokkanischen Wurzeln zeigte beim Spiel zwischen Ghana und Portugal wahrlich keine gute Leistung, bekam aber die Chance sich zu rehabilitieren, nutzte diese eindrucksvoll und schaffte es als vierter Offizieller ins Finale.
Den Unparteiischen des Spiels um Platz 3 in die Kategorie der Verlierer aufzunehmen, klingt sicher erst einmal schief. Jedoch war der Katari Abdulrahman Al-Jassim ganz offensichtlich ein Opfer der sportpolitischen Einflussnahme. Nach nur einem Gruppenspiel – mit akzeptabler Leistung – wurde er direkt ins Bronzespiel katapultiert und sah sich dort absolut auf verlorenem Posten. Das ist nicht die Art und Weise, wie ein solches Spiel um Platz 3 besetzt werden sollte! Denn auch das soll eine Anerkennung für gute Leistungen sein!
Von spanischer Seite wurde uns leider zur falschen Zeit der Exzentriker gezeigt: Antonio Mateu Lahoz kann der Beste sein, allerdings nur, wenn er den richtigen Zugang zum Spiel findet. Passieren aber unvorhergesehene Dinge, wie beim Viertelfinale zwischen den Niederlanden und Argentinien, dann sind die Wege des Mateu Lahoz nunmal unergründlich und das Ergebnis ist ein Kartenrekord von 17 gelben Karten.
Vor dem Turnier war Alireza Faghani ein Finalkandidat. Wohl aber nicht für die FIFA, da der Iraner zwei schwer zu leitende Gruppenspiele zugeteilt bekam und sich mit einem Handelfmeter nach klarer „Stützhand“ selbst ins Aus schoss. Schade!
Ähnlich unglücklich verlief das Turnier für Anthony Taylor. Der Engländer überzeugte nicht wirklich vollends und wartete dann ebenso mit einem unglücklichen Strafstoß auf. Damit waren die WM-Chancen des mittlerweile 44-jährigen beendet.
Ich gehe weitestgehend einig mit der Einschätzung der WM-Schiedsrichter. Über das Finale von Szymon Marciniak herrscht totale Einigkeit. Ein Name fehlt allerdings in der Aufzählung der Besten: Danny Makkelie. Was zu seinem nicht nachvollziehbaren Stopp nach der Gruppenphase geführt hat, bleibt mir von der Leistung unergründlich, wie vor vier Jahren bei Felix Brych. Die Besetzung des kleinen Finales um Platz drei mit Abdulrahman Al-Jassim war ein eindeutige Fehler und ist als reines Zugeständnis an den Veranstalter Qatar zu werten. So gut Collina und Busacca mit dem Finale gelegen haben, so schlecht war diese Nominierung. Vielleicht hatte dabei mal wieder der selbstherrliche Herr Infantino per Weisungsbefugnis bzw Richtlinienkompetenz seine Finger im Spiel.
Wenn der junge Iván Barton den gezeigten Standard hält, gehört ihm mit erst 31 Jahren die Zukunft. Mit nur insgesamt drei gelben Karten in drei Spielen hat er deutlich gemacht, dass es selbst im ganz großen Fußball auch ohne das farbenfrohe Kartenspiel geht, wie es Mateu Lahoz sehr „eindrucksvoll“ demonstriert hat. Der Spanier war immer ein Selbstdarsteller und Exzentriker in der besonderen Art der Spielleitung. Anthony Taylor hat sich selbst um die Früchte eines großen Abschlusses seiner internationalen Laufbahn gebracht. Auch Ismail Elfath hat positiv überrascht. Bleibt aus deutscher Sicht unser derzeit einziger Mann mit Spitzenqualität: Daniel Siebert. Er ist sehr gut, aber noch weiter verbesserungsfähig und kann schon bei der nächsten EM 2024 und WM 2026 ganz oben landen.
Vieles hängt bei einem langen Turnier auch immer von der augenblicklichen Form und dem notwendigen Glück ab. Eine mitunter unglückliche, oftmals keine Fehlentscheidung, kann für das (vorzeitige) Ende sorgen. Der Holländer Björn Kuipers wurde als bester Schiedsrichter der WM 2018 auch durch den kontinentalen Proporz um das Finale gebracht, als der Profi Nestor Pitana trotz durchschnittlicher Leistung den Vorzug erhielt. Das alles hat der von mir ohnehin sehr geschätzte Uefa-Chef Roberto Rosetti bei der EM 2021 bei den Ansetzungen von Kuipers mit vier Einsätzen einschließlich Finale, und Brych mit sogar fünf Einsätzen, durchgehend von der Gruppenphase bis zum Halbfinale, wieder richtig gestellt und für die beiden Schiedsrichter gerechterweise ausgebügelt.
Bleibt die Feststellung: Wenn die Ansetzungen gerade bei einem WM-Turnier aus sportlicher Sicht gerechter sein sollen, darf der Proporz neben jeglichen politischen Einflüssen keine Rolle spielen. Einzig und allein die individuelle Leistung des Schiedsrichters muss für Nominierungen entscheidend sein.
Lieber Dieter, durchweg meine Meinung getroffen. Tolle Ansicht auf ein reformbedürftiges System.
Hallo Andreas,
herzlichen Dank für unsere sehr sachliche Kommunikation während der WM. Wir haben mit unseren gewagten Prognosen bei den Ansetzungen zwar nicht immer richtig gelegen, waren aber auch nicht die Entscheider. 2024 gibt es wieder eine EM. Bei Uefa-Chef Roberto Rosetti läuft vieles anders. Er hat es auch leichter, kann ohne Vorbehalt oder Proporz nach Leistung entscheiden. Was uns betrifft, äußere ich in Schiedsrichterkreisen immer gern den Spruch: Einmal Schiedsrichter – immer Schiedsrichter.
Ich wünsche Dir ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes gesundes neues Jahr. Das Gleiche gilt für die gesamte Schiedsrichter Ig.
Herzliche Grüße aus Stade
Dieter