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Heiderhoff auf dem Weg zum dritten Spiel.

Amateur-Schiri Helterhoff: Unerschütterliche Liebe

Einer wie André Helterhoff hält den Amateurfußball am Laufen. Der 57-Jährige leitet im Jahr mehr als 200 Spiele. An einem Sonntag im November ist er gleich dreimal im Einsatz, einmal als Pate für einen Nachwuchsschiedsrichter und dann als Schiri bei Partien in den Kreisligen B und D. Was vorher niemand wissen kann: Am Abend wird der Tag überschattet sein von Spielabbruch und Polizeieinsatz. Für Helterhoff ist allerdings klar: Die Leidenschaft für sein Hobby lässt er sich nicht nehmen.

Als Pate stand der 57-Jährige am Vormittag Nachwuchsreferee An Kaniwar zur Seite

Es ist die Ruhe nach dem Sturm. Als alles vorbei ist, als sein letzter Pfiff schrill die Begegnung beendet, als er den Sonderbericht formuliert, als die Nacht schon längst den Tag vertrieben hat, schnappt sich Andrée Helterhoff die Hundeleine und geht mit seiner Hündin Mara raus. Noch mal an die frische Luft. Die Gedanken sacken und das Geschehene Revue passieren lassen, die Ereignisse einordnen. Was ist da heute eigentlich passiert? Vor allem: Wie konnte es geschehen? Und die für ihn entscheidende Frage: Welche Rolle nimmt er selbst ein bei dieser Eskalation? Um die Antworten darauf zu finden, braucht er einen klaren Kopf. Braucht er Abstand. Beides findet er am besten, wenn die Welt schläft.

Es war ein Tag, wie ihn Helterhoff selten erlebt hat. Vielleicht noch nie. Als Schiedsrichter ist der 57-Jährige im Kreis Köln unterwegs. Mehr als 200 Begegnungen leitet er im Jahr. Es ist für ihn eine Herzensangelegenheit. Er macht das nicht wegen der Spesen. Er macht das, damit die Fußballer*innen ihre Spiele vernünftig organisiert bekommen, damit sie ihrem großen Hobby in geregelter Form nachgehen können. Helterhoff ist sehr gerne Schiedsrichter. In Sekunden von Bruchteilen Entscheidungen zu treffen, diese nachvollziehbar zu kommunizieren und durchzusetzen, – das sind die Facetten dieser besonderen Aufgabe, die ihm sehr wichtig sind: „Die Schiedsrichterei ist eine Schule fürs Leben. Ich habe schon mehrfach mit Personalverantwortlichen großer Unternehmen gesprochen. Immer wieder habe ich dort das Feedback bekommen, dass die Bewerberinnen und Bewerber besonders gute Chancen auf den Job haben, aus deren Lebenslauf zu entnehmen ist, dass sie als Schiedsrichterinnen oder Schiedsrichter tätig sind.“

Aber dieser Sonntag, ein fieser, ein regnerischer Tag, hat Helterhoff ganz besonders herausgefordert. Trotz knapp zehnjähriger Erfahrung als Schiedsrichter. Trotz mehr als 2.000 geleiteter Begegnungen. Drei Partien stehen auf seinem Plan. Um 11.15 Uhr ist er als Pate bei einem D-Jugend-Spiel zwischen dem SV Westhofen-Ensen und dem SC Hitdorf eingesetzt. Er soll sein Wissen, seine Erfahrungen an einen Jungschiedsrichter weitergeben: An Kaniwar, 16 Jahre alt. Das klappt gut, Kaniwar macht seine Sache sehr ordentlich. „Der Junge hat es drauf, den können wir alleine losschicken. Ich bin begeistert“, sagt Helterhoff später. „Ich habe auch schon andere Patenschaften erlebt.“

SPIEL OHNE SIEGER

Die zweite Partie – und die wird später am Abend während seiner Gassirunde seine Gedanken beherrschen, – ist das Aufeinandertreffen zwischen dem SV Westhofen-Ensen II und dem RSV Urbach. Herren, Kreisliga B, Derby, Abstiegskampf. Am Ende gibt es keinen Sieger, es gibt kein Unentschieden, – es gibt nur Verlierer. Helterhoff muss die Partie nach 71 Minuten abbrechen. Wegen einer Massenschlägerei zwischen Spielern, Trainern, Verantwortlichen und Zuschauenden. Die Polizei muss kommen. Es sind Szenen, die niemand braucht, die niemand sehen will. Die aber leider immer wieder mal vorkommen. „Das war heute mein dritter Spielabbruch überhaupt. Aber ein solches Ausmaß an Gewalt habe ich dabei noch nie erlebt“, sagt Helterhoff später in der Schiedsrichterkabine. Immer wieder schüttelt er den Kopf. Immer wieder schießt ihm die Frage in den Kopf, die aus einem einzigen Wort besteht, aus fünf Buchstaben: Warum?

Im zweiten Einsatz des Tages kam es zu Auseinandersetzungen, die einen Spielabbruch zur Folge hatten.

Die erste Halbzeit verläuft ruhig. Rückblickend vielleicht zu ruhig? Um die 30 Menschen sehen zu, wie der SV Westhofen-Ensen in Führung geht. Helterhoff muss ein paar Fouls pfeifen, ein paar Abseitsstellungen. Karten muss er keine zeigen. Zwischendurch kommt sogar die Sonne raus. In der Pause trinkt er einen Schluck Cola, isst ein Stück Apfel. „Bis jetzt ist alles gut. Aufgrund der Konstellation hatte ich mit mehr Emotionen gerechnet. Aber wer weiß, was noch passiert? Die erste Halbzeit ist auf diesem Niveau oft ein verlängertes Aufwärmen, in der zweiten Halbzeit kann es rundgehen“, sagt Helterhoff.

Ende eines „Arbeitstages“ – in der Kreisliga D und völlig entspannt.

Hat er hellseherische Fähigkeiten? Ist das Erfahrung? Denn nach dem Wechsel tritt genau das ein, was er prophezeit. Die Gäste aus Urbach machen zwei Treffer, gehen mit 2:1 in Führung. Das Spiel wird härter, nickeliger, Abstiegskampf eben, aber alles im Rahmen. Dann allerdings eskalieren alle. Dann eskaliert alles. Ein Spieler fasst einem gegnerischen Akteur an die Gurgel, ein Außenstehender rennt auf den Platz und versetzt dem Angreifer einen Faustschlag gegen Kopf. Im nächsten Moment bildet sich ein Knäuel aus 30, 40 Menschen, die jegliche Beherrschung verlieren. Fäuste fliegen durch die Luft. Was geht hier vor sich?

POLIZEI KOMMT

Und der Schiedsrichter? Wie reagiert Helterhoff? „Das Ganze kam für mich völlig überraschend. Ich habe mich erstmal etwas zurückgezogen, um einen schnellen Gesamtüberblick der Situation zu erhalten. Ich als Schiedsrichter oder meine Entscheidungen waren nicht der Grund für die Entwicklung. Deshalb habe ich versucht zu schlichten, nachdem ich die Lage etwas besser einschätzen konnte, und die Gemüter zu beruhigen.“ Das gelingt auch zunächst. Helterhoff schafft es, die Menge zu trennen. Er schafft es, das eine Lager in die rechte Spielhälfte zu schicken, das andere Lager in die linke. „In dem Moment hatte ich die Hoffnung, die Partie zu Ende bringen zu können. Ein Spielabbruch ist für mich und meine Schiedsrichter-Kolleginnen und -Kollegen immer die allerletzte Möglichkeit.“ Aber dann fällt ein falsches Wort. Und alle gehen erneut aufeinander los. „In dem Augenblick war mir klar: Sportlich geht es hier nicht mehr weiter. Es geht jetzt nur noch darum, zu deeskalieren und schlimmere Verletzungen zu vermeiden.“

Helterhoff ist kein Psychologe, kein Soziologe, kein Verhaltensforscher. Aber er kann mit Menschen umgehen, kann vermitteln, kann beruhigen. Er schafft es tatsächlich, die Situation erneut zu entschärfen, die Spieler unter die Dusche zu schicken. Die Stimmung bleibt explosiv. Es ist wie bei einem Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann. Dann kommt die Polizei und nimmt den Fall auf. Erst als die Gäste die Anlage verlassen, entspannt sich die Situation. Der Puls wird wieder ruhig.

Helterhoff muss ebenfalls weiter. Sein dritter Einsatz wartet. Auch das ist sein Anspruch: Auf ihn muss niemand warten. Wenn er als Schiedsrichter angesetzt ist, ist er auch pünktlich vor Ort. Diesmal in der Kreisliga D. Die zweite Mannschaft der Sportvereinigung Porz erwartet die Reserve des VfB 05 Köln. Auf dem Weg dorthin stärkt er sich noch etwas. Er hat sich morgens eine Thermoskanne mit schwarzem Tee gekocht und Möhren geschält. Für den kleinen Hunger zwischendurch. Für die Fahrt von Platz A zu Platz B. Außerdem checkt er nochmal schnell die Tabelle. Wer steht wo? Wie viele Platzverweise haben die Teams bisher kassiert? Für Helterhoff sind das wichtige Indizien, um einschätzen zu können, worauf er sich einstellen muss.

In Porz läuft noch das Spiel der Ersten, es ist ein Derby in der Mittelrheinliga gegen die Reserve von Fortuna Köln. Helterhoff kommt das gelegen. Er nutzt die gewonnene Zeit, um sich noch etwas vorzubereiten, um in Ruhe die Personalien zu prüfen, um mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Man kennt sich, man schätzt sich. „Schön, dass du heute bei uns als Schiedsrichter im Einsatz bist. Dann kann nichts schiefgehen“, ruft ihm jemand aus der Vereinsgaststätte zu.

ZIGARETTEN IM STUTZEN

Die Geschehnisse anderthalb Stunden zuvor sind natürlich auch hier schon längst Gesprächsthema Nummer eins. Helterhoff will nicht mehr großartig darüber sprechen. Er muss abends noch den Sonderbericht schreiben. Dann wird die Spruchkammer übernehmen und entscheiden. Außerdem – und das ist ihm besonders wichtig, will er seine gesamte Aufmerksamkeit nun dem Spiel widmen, das er gleich leiten wird. Bevor er die Partie wegen Verzögerungen beim vorherigen Spiel mit 15 Minuten Verspätung eröffnet, prüft Helterhoff noch die Ausrüstung der Spieler. Haben alle ihre Schienbeinschoner an? Trägt niemand Schmuck? Hat keiner Zigaretten oder ein Feuerzug in den Stutzen versteckt? „Ja, auch das habe ich bereits erlebt – und zwar nicht nur einmal“, sagt Helterhoff und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: „In der Kreisliga erlebt man oft die ungewöhnlichsten Dinge. Auch deshalb bin ich so gerne dabei.“

Die Partie wird völlig unspektakulär verlaufen. Porz wird mit 6:0 gegen den VfB 05 Köln gewinnen.

Es ist inzwischen dunkel geworden. Die Flutlichter entfalten ihre volle Kraft und tauchen den Platz in unnatürliche Helligkeit. Die Bäume verlieren ihr goldenes Herbstlaub. Ein eisiger Wind pfeift über die Anlage, Nieselregen hat eingesetzt. Würde Helterhoff jetzt nicht lieber zu Hause auf dem Sofa liegen, statt hier in kurzer Hose und langem Oberteil ein Kreisliga-D-Spiel zu leiten? „Auf keinen Fall!“, sagt er energisch, sagt er nachdrücklich. „Ich bin gerne hier. Mir macht das Spaß. Natürlich bin ich auch gerne zu Hause bei meiner Frau. Aber das Wochenende ist nun mal geprägt vom Fußball.“ Bereits am Tag zuvor, am Samstag, war er 14 Stunden im Einsatz: um neun Uhr morgens bei einer Jugendbegegnung, dann bei einem Inklusionsspieltag für Menschen mit Beeinträchtigung und vom Nachmittag bis in den späten Abend bei einem Hallenturnier. So sieht ein normales Wochenende im Hause Helterhoff aus. Und natürlich steht auch wochentags die eine oder andere Begegnung in seinem Terminkalender.

„Uns allen ist bewusst, dass das ein sehr zeitaufwändiges Hobby ist. Aber meine Frau Maryam unterstützt mich dabei und hält mir den Rücken frei. Dafür bin ich sehr dankbar“, sagt Helterhoff, der im normalen Leben im Außendienst für einen großen Versicherer arbeitet. Helterhoff ist über seinen Sohn Daniel zum Fußball und zur Schiedsrichterei gekommen. Zunächst hat er in dessen Mannschaft als Trainer gearbeitet, später haben sie gemeinsam die Ausbildung zum Schiedsrichter gemacht. Daniel Helterhoff hat sich inzwischen aus dem Fußball zurückgezogen. Er studiert gerade in den USA und spielt in San Antonio am College Basketball, – kürzlich war er sogar mit der U 18- Nationalmannschaft beim European Challenger in Nordmazedonien dabei. „Mit 2,09 Metern ist er sowieso zu groß für Fußball“, sagt Helterhoff und muss lachen. Auch seine Tochter Emely, 16 Jahre, interessiert sich nicht großartig für Fußball. Sie ist seit Jahren Rettungsschwimmerin und Ausbilderin bei der DLRG. In seiner Familie ist er also weitestgehend allein mit seinem Hobby.

Am Abend, nachdem er seiner Frau von den Ereignissen erzählt hat, nachdem er den Sonderbericht verfasst hat, nachdem er von seiner Gassirunde zurück ist, ist auch für ihn ein intensiver Tag beendet. Aber spätestens am nächsten Wochenende geht es weiter. Ganz sicher.

TEXT Sven Winterschladen
FOTOS
 Getty Images/Neil Baynes

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Anton Dinslaken

    Ein absoluter Top Bericht. Sowas von klasse. Was mit auch gefällt ist, dass ein erfahrener Schiedsrichter mal davon berichtet, dass auch bei ihm mal was passiert ist, dass zum Spielabbruch geführt hat. Normal hört man ja nur, ist mir noch nie passiert. Top Zusammenfassung.

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