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Die Handspiel-Regel ein unlösbares Problem?

Am 15. und letzten Spieltag der ersten Bundesliga im Kalenderjahr 2022 gab es in vier Partien strittige Entscheidungen, die wir in unserer Spieltagsanalyse aufgreifen wollen. Die kniffligsten und strittigsten Szenen sind dabei zwei Handspiele in Augsburg und Freiburg. Bei der Frage, ob eine Vergrößerung der Körperfläche in unnatürlicher Art und Weise erfolgt, offenbaren sich für die Schiedsrichter einmal mehr Schwierigkeiten bei der Auslegung. 

Borussia Mönchengladbach – Borussia Dortmund 4:2 (SR: Sven Jablonski)

Vor dem 3:1 der Gladbacher soll der Ball bei der Klärung von Jonas Hofmann an der Seitenlinie im Aus gewesen sein. Im Netz kursierten nach dem Tor zahlreiche Bilder, die den Ball vermeintlich klar im Aus zeigten. Doch sowohl Assistenten Sascha Thielert auf dem Platz als auch Videoassistent Günter Perl, der aufgrund des unmittelbar darauffolgenden Treffers hätte eingreifen dürfen, zeigten kein Aus an. Ist der Ausball etwa doch nicht so eindeutig wie auf einigen Bildern dargestellt?

In der Sportschau-Zusammenfassung wird eine Perspektive der sogenannten „Spider-Cam“ gezeigt, die sich über dem Spielfeld befindet. Da die Position jedoch nicht auf der Linie ist, sondern einige Metern versetzt im Feld, verzerrt das Bild ganz schön. Aufgrund der Körperhaltung von Hofmann (linker Fuß auf der Linie und langes Bein Richtung Ball) ist meine Tendenz hier Aus. Das ist jedoch eine Tendenz, die ich mit keinen Bildern eindeutig belegen kann. Wenn sich die Situation für Videoassistent Perl genauso darstellte, ist nachvollziehbar, dass er nicht eingriff und das 3:1 der Gladbacher seine Gültigkeit behielt. Der VAR hat außerdem noch eine zusätzliche Kamera in der Eckfahne zur Verfügung (im Gegensatz zu den TV-Sendern). Ohne Lot und kalibrierte Linie brachte diese aber wohl auch keine Aufklärung. [TV-Bilder ab Minute 1:39]

TSG Hoffenheim – VfL Wolfsburg 1:2 (SR: Daniel Schlager)

In der 66. Minute große Aufregung vor den Trainerbänken! In einem Zweikampf zwischen van de Ven und Rütter wird der Hoffenheimer übel am Sprunggelenk getroffen. Ein reines Bild des Treffer würde sofort einen Reflex zur roten Karte bei den meisten Schiedsrichter auslösen, doch hier ist die Szene komplexer. Denn der Wolfsburger ging zum Ball und spielte diesen auch, sodass das Spielgerät durch eine deutliche Richtungsänderung ins Seitenaus ging. Im Anschluss kam es dann mit dem rechten Fuß zum Treffer am rechten Sprunggelenk von Rütter. Die Intensität war in dem Zweikampf doch sehr hoch. Schiedsrichter Schlager ließ sich hier wohl etwas vom Spielen des Balles täuschen, denn Gelb sah in der Szene nur TSG-Trainer Breitenreiter an der Seitenlinie.

Für mich hätte es hier einen direkten Freistoß (Ball war zum Zeitpunkt des Treffers noch im Spiel) für die Hoffenheimer und eine gelbe Karte für van de Ven geben müssen. Denn die Gesamtintensität des Zweikampfs und der Treffer im Anschluss an das Spielen des Balles stellen hier für mich ein rücksichtsloses Vergehen dar. Da der Wolfsburger Verteidiger in der 55. Minute aufgrund einer Unsportlichkeit verwarnt worden war, wäre das Spiel zu diesem Zeitpunkt für ihn eigentlich vorbei gewesen und die Hoffenheimer hätten nochmal gute 25 Minuten in Überzahl gespielt. Hätte der VfL-Verteidiger den Ball nicht gespielt und mit einer deutlichen Richtungsänderung ins Aus befördert, wäre ein Platzverweis und der damit verbundene Eingriff des Videoassistenten zwingend gewesen. So erfolgt bei einer fehlenden gelben Karte laut Protokoll kein Eingriff. [TV-Bilder ab Minute 5:17]

FC Augsburg – VfL Bochum 0:1 (SR: Dr. Felix Brych)

Direkt nach der Führung der Bochumer zeigte Schiedsrichter Brych auf der anderen Seite auf den Punkt. Eine Flanke von der rechten Seite landete am langen Pfosten bei Berisha, der volley vor Zoller abzog. Der Bochumer sprang in den Ball und hatte dabei beide Arme deutlich vor der Körper gestreckt. Zweifelsfrei eine Vergrößerung der Körperfläche. Aber war diese Armhaltung auch unnatürlich? Für mich ja, denn in dieser Sprungbewegung ist es nicht natürlich beide Arme so vor den eigenen Körper zu reißen. Zoller will hier seine Körperfläche vergrößern, um den womöglich gefährlichen Ball vor das Bochumer Tor aufhalten zu können. Dass der Schuss aus sehr kurzer Distanz erfolgte, ist das kein Kriterium mehr. Das Handspiel war nach dem Aspekt der unnatürlichen Vergrößerung der Körperfläche strafbar. Videoassistent Hartmann griff hier für mich zurecht nicht ein. Berisha trat für den FCA zum Elfmeter an und schoss an die Latte! [TV-Bilder ab Minute 4:08]

 

SC Freiburg – 1. FC Union Berlin 4:1 (SR: Deniz Aytekin)

Die schwerste Partie an diesem Spieltag hatte gestern Abend Deniz Aytekin in Freiburg zu leiten. Der Nürnberger DFB-Schiedsrichter musste gleich vier Mal auf den Punkt zeigen und Diogo Leite in der 19. Minute bereits vom Platz stellen. Diskussionen gab es vor allem wegen dem ersten Strafstoß und der roten Karte. Vorne weg zur roten Karte für Diogo Leite. Sowohl der Strafstoß als auch der Platzverweis waren korrekt, da es sich hier um die Verhinderung einer klaren Torchance durch ein gegnerorientiertes Vergehen im eigenen Strafraum handelte. Diogo Leite brachte Doan zweifelsfrei regelwidrig zu Fall, der Freiburger hatte die volle Ballkontrolle und zog nach innen auf das Berliner Tor zu. Nahezu alle Kriterien für eine klare Torchance waren hier erfüllt.

In der ersten Minute ereignete sich dann der größte Aufreger der Partie, als eine Hereingabe vom Freiburger Günter im Zentrum bei Doan landete, der aufs Berliner Tor köpfen konnte. Doch für so ziemlich jeden Akteur im Stadion griff sich Aytekin überraschenderweise ans Ohr. Videoassistent Tobias Welz meldete sich beim Schiedsrichter aus Oberasbach und bat ihn in die Review-Area. Dort offenbarte sich Aytekin ein auf dem Feld in Echtzeit nahezu nicht zu erkennendes Handspiel durch den Berliner Verteidiger Christopher Trimmel bei der Hereingabe von Günter. Der berührte den Ball mit dem Arm vor dem Körper und vergrößerte so seine Körperfläche. Aber ob das hier wirklich unnatürlich erfolgte? In der Laufbewegung ist eine gewisse Bewegung der Arme seitlich vor und hinter den Körper absolut natürlich. Hier liegt ein absoluter Grenzfall vor, weil die Armbewegungen von Trimmel auf mich etwas unregelmäßige wirken, auf der anderen Seite ist es durchaus in der Laufbewegung. Regeltechnisch eine schwere Entscheidung, die Aytekin am Monitor zu treffen hatte. Er entschied sich für eine unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche und gab den Elfmeter für den SportClub. Vincenzo Grifo trat an und verwandelte zum frühen 1:0. [TV-Bilder ab Minute 0:01]

Im Sinne des Fußballs war diese Entscheidung sicherlich nicht. Denn Berührung von Trimmel veränderte die Spielsituation kaum. Den Freiburger wurde überhaupt keine Torchance verschlechtert oder gar genommen, stattdessen bekamen sie einen „detektivisch“ vom Videoassistenten gefundenen Elfmeter zugesprochen. Ich hab da wirklich Verständnis für jeden Fan, der so einen Elfmeter nicht haben will. Dennoch kann ich auch Schiedsrichter Aytekin und VA Welz verstehen, dass beide besonders genau hingeschaut haben. Denn in den vergangenen Spieltagen sind einige Dinge wohl aufgrund einer zu unergründlichen Prüfung (Beispiel: drastische Szene bei #SGEBVB mit klar fehlendem Strafstoß und Rot für Adeyemi) durch die Lappen gegangen und letztlich falsche Entscheidungen auf dem Feld stehen geblieben. Jetzt haben beide ganz genau hingeschaut und es passt vielen wieder nicht. Der Knackpunkt sind hier zwei schwer zu definierende Auslegungen. Zum einen die Handspielregel mit ihren beiden Kernkriterien „Absicht“ und „unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche“. Ersteres lag hier sicher nicht vor, über den zweiten Punkt lässt sich wie oben geschildert, streiten.

Zum anderen die sogenannte „Eingriffsschwelle“ des Videoassistenten. Fehlende Eingriffe wurden hier in der Vergangenheit oft nicht akzeptiert. Die Begründung, dass eine Entscheidung vielleicht nicht optimal getroffen wurde, aber auch nicht klar und offensichtlich falsch sei, befriedigte ebenfalls oft nicht die Gemüter. Der Projektleiter des Videoassistenten Dr. Jochen Drees kündigte deshalb vor dieser Saison an, dass häufiger eingegriffen werden soll, auch um bessere und nach außen nachvollziehbarere Entscheidungen zu treffen. Das sollte sich nun in der Hinrunde als Fehler herausstellen und führte in Kombination mit einigen Totalaussetzern in Köln zu einer schwachen Hinrunde für die DFB-Schiedsrichter und einer „Schiedsrichter-Krise“ wie Lutz-Michael Fröhlich im Doppelpass selbstkritisch einordnete.

Fazit: Es waren 15 insgesamt absolut nicht zufriedenstellende Spieltage für die DFB-Schiedsrichter. Die neu positionierte Eingriffsschwelle beim Videoassistenten führte zu noch weniger Akzeptanz in der breiten Fanbevölkerung und die Entscheidungsqualität auf dem Feld ließ oft zu wünschen übrig. Es wird Zeit, dass sich bei den DFB-Schiedsrichtern etwas ändert und das die Leistungen im Jahr 2023 zwingend besser werden!

Hinweis: Bei dieser Analyse waren wir auf die Zusammenfassungen im Anschluss an den Spieltag angewiesen.

Simon Schmidt

Sportjournalist Simon Schmidt aus Bayern stieg 2020 bei IG Schiedsrichter ein. Seither ist er Mitglied des Kompetenzteams. In seiner Freizeit engagiert er sich als Fußball-Schiedsrichter und ist leidenschaftlicher Fußball-, Formel 1- sowie Technik-Fan.

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